Von einer Gleichstellung von Menschen mit oder ohne Be- und Einschränkungen ist man noch weit entfernt

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Integration

Landrat Frank Kilian hatte zu einer Filmvorführung mit Diskussion unter dem Titel „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Freiheit – Gerechtigkeit – Würde – Rechtsstaatlichkeit“ eingeladen

Landrat Frank Kilian hatte zu einer Filmvorführung mit Diskussion unter dem Titel „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Freiheit – Gerechtigkeit – Würde – Rechtsstaatlichkeit“ eingeladen

„Wir müssen den Menschen neben mir, mit seinen speziellen Handicaps und seinen Einschränkungen erkennen, ihn verstärkt im Alltag wahrnehmen und ihn bei seiner Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unterstützen“, fordert Prof. Jens Becker am Ende der Diskussion per Videoschaltung, um fast gleichzeitig festzustellen, dass im Bereich der Inklusion noch eine Menge zu tun ist. Denn: Von einer Gleichstellung von Menschen mit oder ohne Be- und Einschränkungen kann auch im 21. Jahrhundert noch nicht gesprochen werden. In dieser Auffassung waren sich am Ende alle Diskutanten einig. Verbesserungen erfolgten leider nur in ganz kleinen Schritten, die zudem hart erkämpft werden müssen. „Wer zum Beispiel einen Menschen im Rollstuhl durch den öffentlichen Raum schieben muss, stößt schnell an Grenzen. Barrieren finden sich leider überall“, berichten Christine Knapp-Aschberger und Siegbert Neid vom Behindertenbeirat in Idstein.

Anlässlich der Europa-Woche und dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (5. Mai) hatte Landrat Frank Kilian zu einer Filmvorführung mit anschließender Diskussion unter dem Titel „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Freiheit – Gerechtigkeit – Würde – Rechtsstaatlichkeit“ eingeladen. Zunächst sahen die Teilnehmerinnen und Teilnehmern die fesselnde Filmdokumentation „Die Erfindung eines Mörders – Der Fall Bruno Lüdke“. In dieser erinnert sich Schauspieler Mario Adorf an seine erste große Rolle als der vermeintliche Massenmörder Bruno Lüdke in dem Film „Nachts, wenn der Teufel kam“ (1957) unter der Regie von Robert Siodmak. Der wahre Fall trug sich zu Zeiten des NS-Regimes zu. Bruno Lüdke war unschuldig, die Morde an Frauen wurden dem geistig beeinträchtigten jungen Mann untergeschoben.

Anschließend moderierte der Co-Regisseur der Filmdokumentation, Jens Becker, die Diskussion mit den Gästen Wolfgang Groh, Präsident des IFB und Vorsitzender der IFB-Stiftung, dem Ensemblemitglied des „Ramba Zamba Theaters“ Berlin und Mitglied im Bundesvorstand der Bundesvereinigung Lebenshilfe, Sebastian Urbanski, mit dem Vorsitzenden des Behindertenbeirates der Stadt Idstein und Gründer des „Handicapt AKTIV forum“, Siegbert Neid, und
Christine Stier von der Schwerbehindertenvertretung des Rheingau-Taunus-Kreises.

Der Film „Nachts, wenn der Teufel kam“ trug die Nazi-Ideologie gegenüber Menschen mit geistigen Behinderungen und Hitlers „Euthanasie“-Erlass ganz unreflektiert ins Nachkriegsdeutschland; auch sehr zum Entsetzen von Schauspieler Mario Adorf, der die Wahrheit erst vor einigen Jahren erfuhr. Eltern, die ein geistig behindertes Kind hatten, wurden bis in die sechziger Jahre vom Staat „alleine gelassen“. Der Inklusionsgedanke war noch fern. Sie mussten selbst sehen, wie sie ihre „Situation“ mit schwerstkranken Menschen – auch Kindern – und Menschen mit besonderen Bedürfnissen langfristig meistern und sicherstellen können. Denn zu jener Zeit gab es noch keine weitreichenden Netzwerke, gab es selten Hilfe, oder spezielle heilpädagogische Förderung für die Familienangehörigen oder sonstige Unterstützung.

So gründete sich 1959 in Wiesbaden, wie Wolfgang Groh berichtete, die Elterninitiative IFB unter dem Namen Interessengemeinschaft für Behinderte. Heute heißt sie IFB-Stiftung Inklusion durch Förderung und Betreuung. Groh: „Wir entwickelten uns vom kleinen Elternverein hin zu einem mittelständischen, national und international agierendem sozialen Netzwerk für schwerstkranke Menschen.“ Ziel sei es, so Groh, „die Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zusammenzubringen und so Inklusion zu ermöglichen“.

Marah Schneider sitzt seit einigen Jahren im Rollstuhl und erlebt ihre Umwelt aus einer neuen Perspektive. Durch „mein Handicap“ fühlt sie sich langsam, stößt sie auf Barrieren und stellt fest: „Die Gesunden sind die Schnelleren!“ Ein Gefühl, das auch Siegbert Neid umtreibt: „Als Rollstuhlfahrer musste ich mich entschleunigen!“ Und Groh erinnert daran, dass im Einkaufsladen in Georgenborn Menschen mit Einschränkungen an der Kasse sitzen, die ihre Aufgaben in einem langsameren Tempo verrichten: „Darauf müssen sich unsere Kunden einstellen, weil Inklusion nun einmal bedeutet, Rücksicht zu nehmen auf den Gegenüber mit seinem jeweiligen Handicap.“ Ein gesellschaftliches Umdenken und einen neuen Umgang mit Menschen mit Handicap fordert dann auch Christine Stier: „Unsere Gesellschaft muss vom schneller, höher, weiter wegkommen, um Menschen mit Einschränkungen in das alltägliche Leben mit einzubinden!“

In Idstein führte der Beirat einen Stadtrundgang mit Menschen im Rollstuhl, mit Senioren mit Rollator und mit Eltern mit Kinderwagen durch und listeten dabei die Hindernisse auf, die für diese Gruppe im öffentlichen Raum kaum zu bewältigen sind. Ergebnis: „Die Barrieren sind fast immer die gleichen!“ Gleiches gilt auch für den Wohnungsbau. „Warum errichtet man nicht Häuser gleich barrierefrei, etwa durch rollstuhlgerechte Eingänge oder Bäder?“ Schauspieler Sebastian Urbanski hebt dagegen die positiven Fortschritte hervor: „Ich erlebe es, dass sich Mitmenschen für unsere Situation interessieren und nachfragen, was Menschen mit Behinderung fühlen.“ Im „Ramba Zamba Theater“ steht er mit Schauspielern ohne Einschränkungen auf der Bühne: „Dort praktizieren wir ein Miteinander auf Augenhöhe. Wer meint, mit uns in Babysprache kommunizieren zu müssen, fliegt raus!“