Kinderschutz: „Wir müssen auch in Corona-Zeiten die stillen Hilferufe wahrnehmen“
Jugendhilfe, Jugendförderung
Jugendhilfe-Dezernentin Monika Merkert blickt auf Kinder aus problematischen Familienverhältnissen / Jugendamt geht Hinweisen nach
Jugendhilfe-Dezernentin Monika Merkert blickt auf Kinder aus problematischen Familienverhältnissen / Jugendamt geht Hinweisen nach
„Viele Eltern standen in den vergangenen acht Wochen unter einer enormen Doppelbelastung, die teilweise an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit ging. Sie mussten nach Schließung der Kitas und Schulen ihre Kinder in den eigenen vier Wänden betreuen und zugleich Lehrkraft sein sowie gleichzeitig im Homeoffice die Aufgaben im Beruf meistern und dies über viele Wochen. In der beengten Wohnsituation kann sich - bei dem einen oder anderen - Wut aufstauen, die auch zu Gewalt führt“, schildert Jugendhilfe-Dezernentin Monika Merkert die aktuelle Situation in Corona-Zeiten. Deshalb sei der Jubel nach den Veröffentlichungen der von Bundes- und Landesregierungen vereinbarten Lockerungen der Corona-Einschränkungen bei den Eltern auch durchaus nachvollziehbar. „Denn nicht jeder konnte mit der beschriebenen Situation konfliktfrei umgehen“, ergänzt Fachbereichsleiterin Liane Schmidt, die auch für das Jugendamt zuständig ist. Ihre Aussage unterstreicht sie mit ersten Zahlen.
Bis zum 30. April 2020 wurden bereits 24 Fälle von häuslicher Gewalt (2019 insgesamt 43) bei der Polizei zur Anzeige gebracht. 22 Inobhutnahmen (2019 insgesamt 72) von Kindern durch das Jugendamt mussten durchgeführt werden. In den ersten vier Monaten 2020 gab es 98 Meldungen von Kindeswohlgefährdung (2019 insgesamt 290). „In den folgenden Wochen nach dem 30. April ist keine Veränderung des beschriebenen Trends erkennbar“, berichtet Jugendhilfe-Dezernentin Monika Merkert. Das gesamte Ausmaß sei noch nicht bekannt. Es wurden inzwischen jedoch vier Fälle von massiver häuslicher Gewalt von Männern gegen ihre Partnerinnen zur Anzeige gebracht, deren Umfang auch „alte Hasen“ im Jugendamt wahrlich erschauern lassen. „Die Pandemie-Beschränkungen - so notwendig sie auch waren - hinterlassen Spuren, die die Gesellschaft auf keinen Fall tolerieren darf“, sagt Erich Blaes.
Die Jugendhilfe-Dezernentin spricht schon von „einem Pulverfass, von dem wir nicht wissen, wann es explodiert.“ Monika Merkert weiter: „Dabei ist der Staat verpflichtet, das Wohl von Kindern zu garantieren.“ Der gleiche Schutz muss auch Frauen gewährt werden, die Opfer von häuslicher Gewalt werden. Liane Schmidt ergänzt: „Wenn es in Familien mit Kindern zu solchen Gewalttaten zwischen den Eheleuten kommt, erhalten wir über die Polizei Kenntnis davon, um uns um das Wohl der Kinder, die oftmals auch Zeugen der Gewalt wurden, zu kümmern.“ „Der Rheingau-Taunus-Kreis blickt also auch in diesen Wochen auf eine weitere gefährdete Gruppe: Kinder aus problematischen Familienverhältnissen“, so Monika Merkert.
Die beiden Teams mit insgesamt vier Personen im Jugendamt, die für den Kinderschutz tätig sind, wurden, um die Ansteckungsgefahr mit Corona-Virus zu minimieren, in unterschiedlichen Gebäuden der Kreisverwaltung untergebracht. Von dort gehen sie Meldungen auf Kinderwohlgefährdung nach. Blaes: „Die Teams gehen – natürlich mit Schutzkleidung – in die Familien, um jedem Hinweis nachzugehen.“ Der Kinderschutz ist gewahrt. Merkert: „Wir dürfen Familien mit Problemen nicht alleine lassen und müssen auch die stillen Hilferufe wahrnehmen.“
Um diese Aussagen zu stützen, weist Merkert auf die Netzwerke hin, die in den vergangenen Jahren erfolgreich aufgebaut wurden: „Bei uns gibt es auch Netzwerke für frühe Hilfen und den Kinderschutz – für Eltern mit Babys und kleinen Kindern. Die Mitglieder achten jetzt ebenfalls ganz besonders auf Hilferufe und gehen auf die Familien zu. Lehrer, Schulsozialarbeit, Erzieher und die Beratungsstellen des Kreises kennen ‚ihre Sorgenkinder‘ und fragen trotz der Schließung der jeweiligen Einrichtung bei den Familien an, wie es läuft.“ Es gehe nicht darum, allen Eltern zu misstrauen. Diese Zeiten verlange von den Jugendämtern eine noch stärkere Sensibilität, um Kinder und Jugendliche zu schützen. Die Kontakte in die Familien bleiben bestehen. Darüber hinaus gibt es kreative Betreuungsangebote.
„Wenn uns ein Fall von akuter Gefährdung des Kindeswohl bekannt wird, folgt – auch während der Corona-Pandemie – sofort der Hausbesuch von zwei Kinderschutzfachkräften, um das Kind persönlich in Augenschein zu nehmen“, beschreibt Liane Schmidt die Praxis. Merkert und Schmidt sind davon überzeugt, dass die Zahl der Kindeswohlgefährdung steigen wird, wenn nach der Öffnung von Schulen und Kitas wieder Meldungen aus diesen Einrichtungen an das Jugendamt erfolgen. „Denn in Zeiten von Corona und den Beschränkungen fiel der Kontrollmechanismus Schule und Kita weg. In ‚normalen‘ Zeiten entdecken oft Erzieherinnen in den Kindertagesstätten, Lehrer oder die Mitarbeitenden in der Schulsozialarbeit den blauen Fleck oder eine Änderung im Verhalten des Kindes und Jugendlichen und werden dann tätig.“ Solche Hinweise gab es zuletzt nicht.
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen wird im Kreis ernst genommen, betont Monika Merkert und appelliert: „Misshandelte, missbrauchte Kinder benötigen Menschen, die ihnen helfen. Diese Kinder sind nicht am Nordpol, sondern mitten unter uns; auch in unserer Nachbarschaft.“